Über das sichere Fundament der eigenen Erfahrung
Als ich nach dem Gespräch mit meinem Kind über seine kalten Hände und die Handschuhe nach Hause fuhr, dachte ich lange über meine Kindheit nach. Was unterschied uns beide und weshalb erschütterten mich seine Äußerungen so sehr?
Natürlich erinnere ich mich auch an unangenehm verschwitzte Haare unter einer für diesen Tag doch viel zu warmen Mütze. Auch ich durfte meine Kleidung nicht alleine auswählen. Aber ich erlebte eine Kindheit auf dem Land, mitten in der Natur und nicht in der Stadt. Ich hatte nahezu unbegrenzte Bewegungsfreiheit, war den ganzen Tag draußen und eroberte die Wälder auf eigene Faust oder gemeinsam mit meinem kleinen Bruder. Vor meinem Elternhaus gab es keine Straße, keine Ampeln, keine eng abgegrenzten Räume – keine Angst vor der beständig vorbeifahrenden Gefahr. Es gab auch noch keine Handys, keine Möglichkeit zu schauen, was wir Geschwister den Nachmittag über machten. Anstelle davon gab es Vertrauen. Die Größeren passten auf die Kleineren auf und zum Abendessen waren wir zurück, den Kopf voller Abenteuer und Stolz und mit der ein oder anderen Schramme am Bein. Jede einzelne davon war wichtig, denn sie schenkte mir ein Stück mehr Selbstvertrauen und wieder etwas mehr Wissen um meine Grenzen.
Ich durfte selbst herausfinden, ob der Baum zum Klettern für mich zu hoch war, musste mit der Angst umgehen lernen, wenn ich in einer Astgabel saß und nicht mehr herunterkam und eine Lösung dafür finden (meist rief ich laut um Hilfe und dann rettete mich mein kleiner Bruder).
Wir bauten Höhlen, fanden Schätze und verliefen uns manchmal auf dem Heimweg. Kurzum: wir erlebten unzählige Abenteuer ohne unsere Eltern und lernten so unsere Grenzen kennen, auf unsere Wahrnehmung zu hören und konnten Vertrauen in unsere Fähigkeiten aufbauen. Aus dem Vertrauen, das unsere Eltern uns entgegenbrachten, indem sie uns ziehen ließen, resultierte wiederum ein Verantwortungsgefühl, das uns stärkte und Achtsamkeit lehrte.
An manchen Tagen durfte ich auch meine Oma in den Wald begleiten. Im Frühling schnitten wir die frischen Triebe der Nadelbäume für die Zubereitung von Waldhonig und ernteten im Frühsommer die unglaublich kleinen, roten, fruchtig-süßen Walderdbeeren am Wegesrand, die sich immer perfekt zwischen Blättern, Gräsern und zartem Moos tarnten. Wie stolz war ich, wenn ich dann doch die kleinen roten Pünktchen im Grün entdeckte! Keine Frucht schmeckte sanfter, den Geschmack habe ich noch heute auf der Zunge.
Im Herbst sammelten wir Tannenzapfen zum Anfeuern des Backofens und ich zupfte mit kleinen Fingern im ersten Herbstnebel die Schlehen von ihren dornigen Ästen.
Mein Opa zeigte mir, wie Bäume gefällt und nach welchen Kriterien diese ausgewählt werden. Die kleineren Stämme konnten wir selbst aus dem Wald ziehen, die großen wurden an den Traktor gehängt. Wir sahen zu, wie er das frische Holz zersägte und spalteten das trockene später selbst zuhause auf dem Hackstock. Aus Haselnusssträuchern schnitzten wir Pfeifen und spannten Bögen mit Bambusstöcken als Pfeile.
All diese Tätigkeiten vermittelten mir ein weiteres Gefühl von Sicherheit, denn ich lernte, dass der Wald uns auch Nahrung und Wärme spendet.
Noch heute fühle ich mich im Wald zuhause, geborgen inmitten der Bäume. Ich weiß, wie sich die Rinde der unterschiedlichen Baumarten anfühlt, erkenne den Geruch der frischen Tannenzapfen, höre die Geräusche der Tiere, weiß dass man am besten nicht in einen Fuchsbau klettert und sich von den Wurzelballen umgestürzter Bäume fernhält. Vor allem aber schenkt mir der Wald durch die Erfahrungen in meiner Kindheit das Vertrauen darauf, dass ich immer nach Hause finde und an jedem Ort überleben könnte. Mit diesem Vertrauen habe ich mich schon durch Indien, Italien und den Thüringer Wald navigiert, als ich noch keinen Zugang zu GPS hatte – und das, obwohl ich einen verdammt schlechten Orientierungssinn habe.
Wo aber können Kinder in der Stadt solch ein Gefühl von Sicherheit aufbauen? Welche Abenteuer können sie erleben auf Spielplätzen voller Eltern, immer unter Beobachtung mit ganz klar abgesteckten Grenzen? Wo können sie ihre Wahrnehmung schärfen, ihre eigenen Grenzen erfahren und Vertrauen in sich gewinnen?
Laut einem Artikel aus der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2017 hat sich der Bewegungsradius der Kinder von mehreren Kilometern in den 60er Jahren auf 500 Meter verringert (vgl. Süddeutsche, 30. Juli 2017).
Hier in der Stadt fehlt das ausgleichende Moment, die Ausgewogenheit zwischen Räumen oder Orten an denen Kinder beobachtet und unbeobachtet Spielen und sich Ausprobieren können. Wieviel schwerer wiegt es unter diesen eingeschränkten äußeren Bedingungen, wenn ich meinem Kind auch noch verwehre, das Vertrauen in seine körperliche Wahrnehmung zu gewinnen?
Es ist nicht so, dass ich mir in allem total sicher bin und festen Schrittes durch mein Leben gehe, weil ich Zugang zu Orten hatte, an denen ich unbeobachtet spielen konnte. Trotz meiner Kindheit auf dem Land habe ich Ängste. Doch die Erfahrungen, die ich alleine machen konnte, haben mir ein Gefühl der Sicherheit und ein Bewusstsein für meine Grenzen gegeben, das bis heute anhält.
Weiterführende Links zum Thema Bedeutung der Natur für Kinder:
– Natürliche Freiräume erobern: Kinder lieben Wald!
– Warum Kinder mehr in und von der Natur lernen sollten
Liebe Silke,
wie schön, in deinem Blog zu stöbern, zu lesen, ins Nachdenken zu kommen. Wenn du von deinem freien Aufwachsen schreibst, finde ich mich in vielen Zügen wieder, sowohl in der Freiheit, zu sein, als auch in den Ängsten, die allein bewältigt werden mussten. Die Frage, wie wir das bei unseren Kindern halten wollen und können, beschäftigt mich immer wieder in verschiedenen Rollen. Heißt es doch auch wieder, sich mit seinen eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. „500 Meter“ bleiben haften und ich frage mich, was das für ein Leben bedeuten mag.
Liebe Grüße, Dorothee
Liebe Dorothee,
vielen Dank für Deine Worte. Die Vorstellung der 500 Meter beschäftigt mich auch, seit ich den zugehörigen Artikel gefunden habe und damit verbunden vor allem die Frage, ab welchem Alter diese 500 Meter alleine „erobert“ werden dürfen.
lg Silke
Liebe Silke, meine eigene Kindheit ist Garten-, Hof- und Walderfahrung durchzogen, das gemeinsame Tun mit den Erwachsenen beim Ernten und Sammeln war bedeutsam, aber auch das Umgebensein von vielen anderen Kindern, Kusins und Kusinen, Kindern in der Nachbarschaft, zum Treffen einfach vor die Tür gehen. Das Machen, Tun, Gestalten mit den Händen hatte großen Raum. Meine Tochter ist in einer Umgebung groß geworden, in der Lagerfeuer, Schnitzen, Überfelderlaufen möglich war. Aber Begegnungen mit anderen Kindern waren fast immer nur mit Verabredung möglich, später alle in ihren Hobbies verplant und heute ist die digitale Welt das Verbindende. Ich wünsche mir wieder Verbindung zu Mensch und Natur für sie.
Liebe Bettina,
vielen Dank für das Teilen Deiner Erinnerungen. Deine Wünsche teile ich voll und ganz!
lg Silke