Endlos

endlos, langer Weg im weiten Feld, kleines Kind geht entlang

„Mama, hört das nie wieder auf? Geht Corona nie wieder weg?“ Deine Augen sind so groß und angstvoll, als Du mir zum ersten Mal nach zwei Jahren Pandemie diese Frage stellst. Zwei Jahre, die Dein halbes Leben sind. Du bist gerade alt genug, um Dich an die Zeit davor noch erinnern zu können. Ich schaue Dich an und muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen.

Aber warum eigentlich? Warum nicht weinen? Weshalb nicht endlich trauern darüber, dass das Leben, so wie wir es kannten, zumindest auf absehbare Zeit erst einmal vorüber ist?

Du schaust mich an und ich fühle mich ertappt. Zwei Jahre habe ich versucht, alles von Dir fernzuhalten so gut ich konnte und bin der Illusion erlegen, es auch zu schaffen. Du bist so klein, habe ich gedacht, wenn wir nur oft genug im Wald sind und Ausflüge in die Natur machen, dann bekommst Du das alles nicht so mit. Was für ein Selbstbetrug!

Konnte ich tatsächlich glauben, dass Du die Plexiglaswände im Supermarkt nicht bemerkst, über die Masken hinwegsiehst und ganz selbstverständlich nicht mehr in die Kita gehst? Habe ich wirklich gedacht, dass Du Dich freust, jeden Tag zuhause zu sein und mir bei Zoomkonferenzen oder Deinem Bruder beim Homeschooling zuzusehen? Wie konnte ich denken, dass Du klaglos akzeptierst, dass es für Dich weder Kindergeburtstage noch Kitafasching gibt? Und dass es anstelle eines Laternenumzugs mit echtem Pferd in diesem Jahr nur einen Laternenlauf durch euren Gruppenraum mit Schaukelpferd gab?

Realitätsflucht in den Wald

Ich schaue in Deine Augen und muss einsehen, dass meine Versuche, mit langen Ausflügen aufs Land die fehlenden sozialen Kontakte zu ersetzen, vor allem auch mir galten. Ich konnte mit dir und deinem Bruder an der Hand durch Wälder streifen, über Sommerwiesen rennen und auf modrigen Baumstämmen in die ersten Erdbeeren des Jahres beißen. Umarmt von Vogelgezwitscher streckten wir die Beine ins warme Gras und fanden auf diese Weise Zuflucht an Orten, die sich durch die Pandemie scheinbar nicht verändert hatten. Nur dass wir diese Zuflucht nun alleine fanden und ihr nicht wie sonst die Gegend mit euren Freunden erobern konntet. Für den Moment wart ihr euch in der Natur aber meist genug. Am Abend kehrten wir sonnensatt und mit den Taschen voller gesammelter Steine zurück in die Stadt.

Nach solchen Tagen fiel es mir leichter, mein Entsetzen über die bedrohliche Realität und die Angst ganz tief in mir zu vergraben. Mein Alles-ist-gut-Gesicht weckte euch am nächsten Morgen und meine Hände warfen kurz darauf die Eierkuchen durch die Luft. Ihr aber habt sie aufgefangen und als Maske vor eure Gesichter gehalten, so als wolltet ihr mir sagen: „Ist schon ok, Mama, aber schau, wir wissen was dahinter steht.“

Schonungslos habt ihr mir den Spiegel vorgehalten und ließt mich über Gummiseile, Kletterseile und Haushaltsschnüre stolpern, die sich am Abend der Spielplatzabsperrungen in einem wilden Durcheinander quer durch unsere Wohnung spannten. Ihr habt eure Erlebnisse in einem Spiel reproduziert, das eine unmittelbare Erfassung der neuen Realität darstellte. Während ich noch an altbewährten Fluchtmechanismen festhielt, stand eure Direktheit meinem Entschluss entgegen, jedes Grau als Mischung aus vielen bunten Farben zu begreifen.

Unter dem Schmuck lagert das Grau

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, die Fotos von unserem abgesperrten Flur betrachte oder morgens Eierkuchen durch die Luft werfe, ist mir klar: Es war ein Geschenk war, dass wir jederzeit in die Natur fahren konnten. Zugleich war es aber unmöglich, die Motivation für unsere Ausflüge zu verdrängen. Das Fundament dieser Tage in der Natur waren die Angst und die Vermeidung von Kontakten während der Pandemie, die wie ein grauer Schleier immer wieder nach oben drängte. Und so sehr ich mich auch bemühte – es war unmöglich die einst bekannten Farben wieder vom Grau zu trennen. Wir mussten sie neu entdecken, um Neues aufbauen zu können.

Es kann keine Neuorientierung ohne Trauer geben. Ich kann nicht nach vorne schauen, wenn ich mich weigere, die Dinge klar zu benennen und den notwendigen Abschied zu akzeptieren.

Neuanfang, Sonne auf dem winterlichen Feld

Mama, hört das nie wieder auf? Geht Corona nie wieder weg?“

Nein, wahrscheinlich wird es uns begleiten. Und auch wenn wir lernen werden, damit zu leben und die Angst kleiner werden wird mit der Zeit, so ist es ok, wenn Du jetzt traurig bist. Auch ich bin traurig, dass wir alle unsere Rituale neu denken müssen. Es tut mir leid, dass Du schon auf zwei Kindergeburtstage in der Kita und auf das Pferd an St. Martin verzichten musstest. Ich bin auch traurig und es ist ok, wenn wir das jetzt sind.“ Ich nehme Dich an der Hand und wir gehen über das schneebedeckte Feld. Du erzählst, was Du mit Deinen Kitafreunden immer gespielt hast. Du weinst, weil Du sie so sehr vermisst. Ich höre Dir zu und fange Deine Tränen mit einem Taschentuch auf. Es ist so weiß wie der Schnee, in dem unsere Fußabdrücke kleine Spuren hinterlassen.

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