Wir erschöpfen uns im Alltag und überbieten uns mit Erzählungen davon, was wir alles zu tragen haben. Was wir ertragen und auf uns nehmen mit den Kindern und lachen über Sprüche wie „Am Ende der Nerven sind noch so viele … “
„Liebes Kind, wie klängen diese Worte in Deine Richtung gesprochen?“
Ich weiss, dass Du es bist, der all das ertragen muss, was ich Alltag nenne. Es sind mein Rhythmus, meine Arbeit, meine Pflichten und meine Freizeit, die Dich lenken. Es ist meine Entscheidung, Überstunden zu machen und nicht dafür zu kämpfen, mehr Zeit mit Dir zu verbringen. Ich muss mich bei Dir entschuldigen, dass ich Dich zu spät abhole und auf dem Spielplatz nur noch schnell meine Mails checke und nicht bei meinen Arbeitgebenden um Verständnis bitte, dass ich schon los muss und nicht sofort geantwortet habe auf die Nachricht weit nach 17 Uhr. Es ist meine Entscheidung, die Prioritäten in Arbeit und Kind aufzuteilen und nicht in Kind und Arbeit. Mit der schwachen Begründung, dass die Arbeit das Geld für unser Leben bringt.
„Was für ein Leben?“, fragst Du mich. Was für ein Leben, frage auch ich. Ein Leben, das vorüberzieht. Ein Leben, in dem Du groß wirst, ohne dass ich jeden Deiner Schritte begleiten kann. „Ich kann das schon alleine“ sagst Du und ich stimme Dir zu. So vieles kannst Du schon alleine. Zusammen auf der Couch kuscheln und Hörspiele hören, zusammen lachen und streiten und aufatmen, das kannst Du aber nicht alleine und vor allem ich kann das nicht.
„Warum also bemerke ich Dein Fehlen immer dann, wenn Du nicht da bist?„
Wieso poste ich ein lachendes Foto von Dir anstatt Dich in den Arm zu nehmen in dem Moment, in dem Du so herzhaft lachst. Weshalb erlaube ich mir nicht, Dein Lachen ganz und gar in mich aufzunehmen, so dass Du Dich in meinen Augen und nicht im Display meines Handys spiegeln kannst? Wie kann ich unter der Last des Tages ächzen und nicht die Erschöpfung hinter Deiner Wut und Deinem Rückzug sehen? Warum kann ich nicht innehalten und Dich hören?
Wieso erkenne ich Dein Tagträumen nicht als das was es ist – ein Platzschaffen und Durchatmen, ein Aufnehmen der Welt in Dich und ein Auf-Distanz-Gehen, wenn Du Pause brauchst. Vor allem: Weshalb träume ich nicht mit? Warum musst Du immer schneller gehen, ich aber nie langsamer?
„Mama, warum leben wir nicht hier?“, fragst Du mich im Wald und ich finde Argumente für die Stadt, die für mich vielleicht ganz gut funktioniert – oder besser: ich habe mich arrangiert – aber was bitte macht ein Kind an diesem Ort? Und, was machen wir eigentlich dort?
Eine Ansammlung aus Beton und Stahl und ab und zu Grün, das wir – bitte nicht betreten – nicht wegen des Rasens sondern wegen der Kacke darauf, die sich hier auf ein paar wenige Quadratmeter konzentriert. Genau wie die Vögel, die hier viel schöner singen. Nein, wir hören sie nur besser, weil sie sich zwischen die Betonwüste zwängen, auf das wenige Grün und die paar Vogelbeersträucher komprimiert. Ich verstehe nicht, weshalb sie hier sind. Es hält sie kein Job, keine Infrastruktur und auch keine Hobbys.
Ich vermute, wir halten sie mit unserer Schwermut und ihre Anwesenheit ist ein bloßes Erbarmen mit uns. Oder eine Mahnung, die Erinnerung daran, dass die wahre Schönheit hier nicht zu finden ist.
„Mein liebes Kind, …“
wir leben hier und nicht im Wald, weil ich es so entschieden habe. Du musst schneller gehen, weil ich zu spät losgegangen bin, weil ich mich verzettelt habe zwischen all den Terminen. Ich erwarte, dass Du pünktlich bist und mit mir gehst, wenn ich Dich abhole und vergesse dabei, dass Du die ganze Zeit auf mich gewartet hast, während ich nur noch kurz was erledigen musste.
Und sehr viel später werde ich auf Dich warten, vielleicht Tage, vielleicht Wochen oder Monate, während Du noch schnell Dein Leben lebst. Aber ich kann nicht sagen, ich kann nichts dafür, wenn Deine Priorität die Arbeit und dann die Mutter ist und nicht umgekehrt. Dann weiss ich, dass ich all das ertragen muss, was Du Alltag nennst. Es sind Dein Rhythmus, Deine Arbeit, Deine Pflichten und Deine Freizeit, die Dich lenken. Es ist Deine Entscheidung, Überstunden zu machen und nicht dafür zu kämpfen, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Aber du musst Dich nicht bei mir entschuldigen, dass du mich nicht besuchen kommst und am Kaffeetisch noch schnell Deine Mails checkst. Es war meine Entscheidung, Dir diese Art der Beziehung zu vermitteln.