Gedanken über nachwachsende Menschen, über Anfang und Ende. Eingebettet zwischen Abendbrot, Eifersucht und Dusche. Ein Gespräch zwischen Brüdern an einem Mittwochabend.
„Wächst aus dem Wasser jetzt ein neuer Mensch nach? Wenn einer in einer Wohnung gestorben ist?“
Du schaust fragend zur dampfenden Dusche unter der Dein großer Bruder steht und sich die Haare wäscht. Ganz alleine duscht und wäscht er sich – während du auf dem Toilettenring balancierst, für den du eigentlich schon viel zu groß bist. Aber irgendwie ist er für uns alle eine der letzten Brücken zu der Zeit „als ich noch drei war“, wie Du immer sagst und damit meinst, als ich noch ganz klein war. Viel kleiner als jetzt, denn jetzt bist Du schon sehr groß und denkst über solch große Fragen nach. „Aber noch nicht ganz so groß wie mein Bruder“, schiebst Du immer wahrheitsgemäß hinterher.
Ich gehe zurück in die Küche und lasse mich auf die Küchenbank sinken. Auf dem Teller liegt noch mein Stück Brot. Unangetastet wartet es auf mich. Mein Blick fällt auf all die Krümel, die sich um eure Teller herum ausbreiten. Reste der Schlacht, die eben noch am Küchentisch tobte und ich mich weit weg, zumindest aber in ein anderes Universum wünschte. Vielleicht in dieses, das ihr gerade in euren Gesprächen erobert.
Die Frage nach dem Anfang und Ende
„Mama, wächst in dem Haus da drüben jetzt ein neuer Mensch nach?“, fragtest Du nach dem Tod unseres Nachbarn als wir gerade auf dem Weg zum Einkaufen waren. „Warum soll da ein Mensch nachwachsen?“, fragte ich Dich. „Na weil der Nachbar ist ja gestorben in seiner Wohnung. Wächst dann da drüben in der anderen Wohnung jetzt ein neuer Mensch nach?“
Lächelnd habe ich Dir erklärt, dass Menschen ja keine Pflanzen sind, die einfach so irgendwo nachwachsen, sondern als Babys geboren werden. „Mama, weiß ich doch schon! Aber die älteren Menschen, wo wachsen die nach, wenn sie gestorben sind?“ Deine Schlußfolgerung berührte mich sehr. Babys werden zu Kleinkindern, das kannst Du täglich in der Kita miterleben, aber ältere Menschen verschwinden einfach.
Während ich nun in mein Brot beiße und an die nachwachsenden Menschen in den Häusern denke, klingen eure Stimmen zu mir herüber, vermischen sich mit dem Plätschern des Wassers und werden angereichert mit eurem Lachen.
Vergessen sind die Tränen und die Empörung darüber, dass dein großer Bruder beim Frühstück eine Waffel mehr gegessen hatte als du. Das fiel dir heute Abend wieder ein, als ich den Abendbrottisch deckte: „Das ist unfair, Mama! Ich hatte nur eine! Und du hattest zwei!“ „Nein, das ist nicht unfair, weil Du …“ „Doch, unfair! Total unfair!“ Danach Tränen der Wut aus enttäuschten Augen. Und während ich es mit reden versuchte und trösten wollte, verlies der große Bruder den Raum und kam mit seiner Brotbox zurück.
„Ich hab noch ein Stück Waffel übrig“, sagte er und reichte dem Kleinen die Box. „Für mich?“ strahlte dieser, nahm das Waffelstück entgegen und biss freudig hinein. „Ich geh jetzt duschen“, verabschiedete sich der Große kurz darauf ins Bad. „Ich komm mit“, schloß sich der Kleine an. Gemeinsam verschwandet ihr ins Bad und ich blieb zurück an diesem Tisch und schaute auf die Krümel.
Minuten vergehen, zerfließen im Wasserplätschern. Zeit ist egal in eurem Universum, das ihr mit euren Gedanken und Worten gerade entstehen lasst. Es spielt keine Rolle, dass das Wasser schon viel zu lange läuft oder ihr längst im Bett sein solltet. Es ist nur wichtig, was jetzt und hier gerade ist: zwei Brüder, die es genießen sich zu haben und vom Waffelstreit ganz selbstverständlich zu den großen Fragen unserer Existenz gewechselt sind.
Ich kaue mein Brot und verstehe ganz langsam, was ihr schon lange wisst und selbstverständlich lebt: Gefühle kommen und gehen, ich muss sie nicht immer lenken wollen und eindämmen, damit es für mich weniger belastend ist. Loslassen. Zulassen. Zeit geben. Dem Wasser, der Dusche und euch. Irgendwo findet sich schon immer noch ein Stückchen Waffel und wer weiß – vielleicht wachsen aus dem Wasserstrom schon morgen neue Menschen nach.