Im freien Fall

Von der ersten unfreiwilligen Grenzüberschreitung

So ambivalent die Gefühle beim bewussten Übertritt einer Grenze auch sein mögen, so unvorbereitet war ich auf die Reaktion meines Körpers, als ich zum ersten Mal unfreiwillig meine innere Grenze überschritt.

Es war ein schöner Sommertag, irgendwann gegen Ende der sechsten Klasse, kurz vor den lang ersehnten Sommerferien. Alle Schüler*innen machten sich mit gepackten Rucksäcken auf zum Wandertag in die Umgebung. Da meine Schule in einer süddeutschen Kleinstadt lag, konnten wir direkt vom Schulgebäude aus loslaufen und waren schon nach kurzer Zeit in der Natur.
Gegen Mittag machten wir Rast auf einem Spielplatz. Auf den ersten Blick handelte es sich um einen ganz typischen, süddeutschen Spielplatz: Holzbänke, ein Sandkasten, eine Wippe und eine Schaukel mitten auf einer grünen Wiese. Dann entdeckten meine Mitschüler*innen ein T-förmiges Pendelsitzkarussell. Ich war skeptisch. Drehende Objekte mochte ich nicht sehr und das Gefühl, dabei auch noch den Boden unter den Füßen zu verlieren machte mir Angst. Dieses Ding, das sehr an ein zweisitziges Kettenkarussell erinnerte, vereinte all diese Eigenschaften.

Eine Weile schaute ich aus sicherer Entfernung zu, wie meine Mitschüler*innen eine Runde nach der anderen auf dem Ding drehten, doch mit jeder Runde fühlte ich mich unwohler. Ausgegrenzt, übertrieben ängstlich.
Nachdem mich eine Freundin zum wiederholten Male fragte, ob ich nicht doch mitmachen wolle, ließ ich mich schließlich überzeugen, gebunden an das Versprechen, dass wir uns nur ganz langsam drehen würden. So kletterte ich also auf die kleine Sitzfläche. Meine Hände umklammerten fest das dicke, raue Seil, an dem die Sitzteller hingen. In diesem Moment kam unser Lehrer und griff mit den Worten: „Ah, ihr wollt also auch ne Runde drehen!“, zum Mast in der Mitte. Ich erschrak. Er wusste nichts von meiner Angst und der Vereinbarung und er war so groß und kräftig gebaut, dass er bestimmt nicht vorsichtig sein würde. Ich wollte absteigen, doch es war zu spät. Das letzte, an das ich mich erinnere war, wie er die ganze Kraft seines massigen Körpers einsetzte, um das Karussell in Schwung zu bringen.

Binnen Sekunden wirbelten wir durch die Luft, ein Gefühl wie im freien Fall. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Es kam nur ein Flüstern aus mir heraus „Nein, nicht so schnell! Stopp. Aufhören. Ich will runter …“, dann blieb mir die Luft weg, mein Herz schien stillzustehen und ich umklammerte mehr aus Reflex denn aus bewusster Entscheidung das dicke Seil so fest ich nur konnte. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich verlor die Orientierung, gefangen in einer Schleuder, unfähig zu atmen.
Irgendwann nach einer gefühlten Unendlichkeit verlangsamte sich die Drehbewegung, kam schließlich zum Stillstand. Das ohnmächtige Gefühl verlies meinen Körper und ich konnte wieder Luft holen. Vorsichtig öffnete ich die Augen und kletterte benommen von meinem Sitzteller. Mit zittrigen Beinen ging ich zu meinem Rucksack und setzte mich auf die Bank.

Ich war fix und fertig. Niemand hatte meine Panik bemerkt, niemand schien sie jetzt zu bemerken. Unser Lehrer rief zum Aufbruch, wir packten unsere Brotdosen zusammen. Im Losgehen versuchte ich mit einer Klassenkameradin zu sprechen, doch mir fehlte der Mut. Eigentlich war ja auch nichts passiert. Irgendwer fragte lachend, ob ich etwa Angst gehabt hätte? Ich schämte mich. Offensichtlich war ich die Einzige, die das Karussell schlimm fand. Nur meine Knie konnten nicht so schnell vergessen. Sie fühlten sich beim Gehen an, als hätten sie sich komplett in lapprige Gummiteile verwandelt. In meinem Kopf war Chaos und immer wieder die Frage: „Was wäre passiert, wenn ich aus Reflex losgelassen und nicht festgehalten hätte?“

Im Vorbeigehen schaute ich nochmal zum Pendelsitzkarussell, das nun wieder ganz unscheinbar und verlassen in der Sommerhitze baumelte. Ganz träge und still stand es da. Wie konnte mir so ein kleines Gerät solch eine Angst einjagen? Was war passiert? War es überhaupt passiert? Warum konnte ich nicht schreien? Warum machte mir etwas Angst, das anderen Freude bereitete oder ihnen sogar langweilig war? Was stimmte nicht mit mir?

Über die Jahre verdrängte ich dieses Erlebnis. Die Angst, den Boden unter den Füßen und somit auch jegliche Kontrolle zu verlieren ist aber geblieben und daher vermied ich in der Folge jegliche vergleichbare Situation, hatte Angst vor Klassenfahrten in Erlebnisparks und sträubte mich auf den Rummel zu gehen, denn an solchen Orten fühlte ich mich ausgeschlossen in meiner Panik, stand am Rand während die anderen Spaß hatten. Vielleicht hätte ich lernen können, mit meiner Angst umzugehen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, darüber zu sprechen, weiß ich doch aus der Erfahrung mit meinen eigenen Kindern, dass Ängste abgebaut werden können. Doch so sicher ich mich zuhause in der Natur und im Wald fühlte, so unsicher war das Terrain in der Schule für mich. Um sprechen zu können braucht es aber einen sicheren Raum, in dem Kinder den Mut haben, sich über ihre Sorgen und Nöte auszutauschen und es braucht ein achtsames Umfeld, das wahrnimmt, respektiert und begleitet.

Vor allem in der Arbeit mit Kindern kann dies eine große Herausforderung darstellen. Die Gruppen sind groß und die Verhaltensweisen und Äußerungen können sehr individuell, teilweise widersprüchlich und dadurch nicht unbedingt leicht zu lesen sein. Doch gerade im frühen Kindesalter, in Kita und Schule, ist es besonders wichtig, vertrauensvollen Räume in denen ein achtsames Miteinander herrscht, zu schaffen, denn hier wird das Fundament gelegt für den späteren Umgang mit Grenzen aller Art, Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen.

Bevor ich ab nächster Woche ausführlicher auf Grenzüberschreitungen im Kindesalter und mögliche Auswirkungen auf das Erwachsenenalter eingehe, füge ich hier als Nachlese und Ergänzung zu allen bisher veröffentlichten Beiträgen noch den Link zum Beitrag Wildnis als außerschulischer Lern-, Bildungs- und Erfahrungsort im heterogenitätssensiblen Sachunterricht“ von Michael Gebauer aus der 25. Ausgabe widerstreit-sachunterricht vom 25. Oktober 2020 ein. Auf Seite 6 findet sich ein Abschnitt über die „Natur als individuell identitätsstiftender Erlebnisraum (Körper-, Sinnes-, Selbst- und Grenzerfahrungen)“.

4 Kommentare

  1. Sara says:

    Liebe Silke,
    ein sehr interessanter Text über Ohnmachtsgefühle und Angst, der bei mir viel angestoßen hat, weil wir in der Familie auch Erfahrungen mit diesen Themen gemacht haben. Hilflos ist dabei nicht nur das Kind, auch die erwachsenen Personen, so zugewandt, aufmerksam und hilfswillig sie auch sein mögen. Für Manches lassen sich sehr schwer Worte finden…. zu Abstrakt und ungreifbar… Danke, dass Du das geteilt hast. LG Sara.

    1. Liebe Sara,
      es ist ein sehr komplexes Thema, das schwer zu fassen ist. Daher rührt auch meine Entscheidung, aus der subjektiven Sicht des Kindes und der Mutter zu schreiben, in der Hoffnung, kleine Denkanstöße zu geben und in Austausch zu treten. Ich bin sehr dankbar für Feedback und Einblicke in andere Perspektiven. Ich hoffe, dass ihr in eurer Familie gemeinsam einen guten Weg gefunden habt. Vielen lieben Dank für Deine Worte! Lg Silke

  2. Bettina says:

    Liebe Silke, mir gerät dein Blog immer ein bißchen aus dem Blick, aber wenn ich wieder über Deine Gedanken zu Grenzen lesen, bin ich sehr angerührt davon, wie Du das Thema verarbeitest. Eigene Grenzen wahrnehmen, nicht darüber gehen, sie deutlich machen, mutig dazu stehen braucht ein sensibles Umfeld, das die Auseinandersetzung im eigenen Tempo zugesteht. Ausprobieren, zaghaft versuchen, einen Rückzieher machen, Angst haben sollten einfach sein dürfen. Bettina

    1. Liebe Bettina,
      vielen Dank für Deine Gedanken! Ja, all diese Gefühle sollen sein dürfen als ganz natürliche Erfahrung auf dem Weg zu und mit sich selbst 🙂
      lg Silke

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