Grenze und Bewusstsein

Wie das Wissen um Grenzen das Verhalten und die Gefühle verändert

Seit ich von dem Grenzstein und seiner Bedeutung erfahren hatte, veränderte sich mein Blick auf die Wiesen und Felder. Ich rannte nicht länger über freies, weites Land, ich rannte über unser Land. Das fremde Land, das unseren Nachbarn gehörte, mied ich dagegen. Ich rannte also nicht mehr einfach so drauflos, ich achtete beim Rennen darauf, innerhalb unserer Grenze zu bleiben.

Wir ernteten das Obst von unseren Bäumen, das von Nachbars Bäumen nur, wenn es über die Grenze auf unser Grundstück fiel. Wie gerne hätte ich Zwetschgen von Nachbars Zwetschgenbaum genommen. Sie sahen viel saftiger, größer und süßer aus. Die Verlockung verbotener Früchte.

Einmal gingen Spaziergänger an unserem Grundstück vorbei. Mein Vater hatte direkt vor unserem Haus einen Apfelbaum gepflanzt. Es war Herbst und seine Zweige waren übervoll mit prallen, roten Äpfeln. Einer der Spaziergänger blieb stehen, streckte seinen Spazierstock über den Zaun und schlug auf die Äste ein, in der Hoffnung, ein paar Äpfel würden herunterfallen und zu ihm auf die Straße vor seine Füße kullern. Ich war entsetzt. Jemand klaute unsere Äpfel!

Das Wissen um die Grundstücksgrenzen, pflanzte in mir den Wunsch, sie zu verteidigen. Ich fühlte mich persönlich getroffen, wenn jemand diese Grenzen überschritt, so wie die Spaziergänger es taten.

Aus heutiger Sicht erstaunt es mich, wie schnell und wie selbstverständlich ich ein Bewusstsein für Grenzen entwickelte und lebte. Noch heute erinnere ich mich an die Aufregung, die ich empfand, wenn ich im Wald einen neuen, mir noch unbekannten Markstein entdeckte. Wem gehörte dieser Wald wohl? Was es da wohl zu entdecken gab?

Das Bewusstsein für die Grenzen, die mich umgaben hatte vom Kopf aus meinen ganzen Körper erobert, nistete sich schließlich in mein Herz ein und rief ganz neue, ambivalente Gefühle hervor:
Die Angst und die Verlockung, sie zu übertreten, eine große Neugier darauf, noch unberührte Flächen zu entdecken. Die Freude darüber, dass wir so ein schönes und sicheres Zuhause hatten und das Unverständnis, dass wir andere Lebewesen mit Gewalt innerhalb unserer Grenzen halten mussten.

Mit Gewalt meine ich unseren elektrischen Weidezaun.

Diese Grenze bedeutete Schmerz und ich verstand nicht, weshalb wir anderen Lebewesen Schmerz zufügen mussten, damit sie bei uns blieben. Diese Grenze machte mir Angst, denn auch ich empfand Schmerz, wenn ich den unter Strom stehenden Draht versehentlich oder absichtlich anfasste, der sich von Holzpflock zu Holzpflock um die Wiese schlängelte. Diese Grenze war weithin sichtbar und das klackende Geräusch des fließenden Stroms hörbar.

Ich fühlte mich schuldig, wenn ich die Kühe doch hin und wieder zum Zaun lockte, um sie aus meiner Hand fressen zu lassen. Schuldig, weil sie aus Angst vor dem Schmerz am Zaun immer ein paar Meter zurückblieben. Ich aber überzeugte sie, einer Verlockung zu folgen und ihr Wissen um die Gefahr zu ignorieren. Doch manchmal hielt ich das Grasbüschel zu nah über dem Draht und sie berührten ihn doch mit dem Maul. Dann zuckten sie zusammen und sprangen zurück. Es tat mir unglaublich weh, dass ich ihr Vertrauen missbraucht hatte, dass ich ihren Schmerz in Kauf nahm, nur damit sie zu mir kamen.

Diese Grenze vermittelte mir ein Gefühl der Macht und der Ohnmacht. Dieses Gefühl wollte ich nicht. Damals war mir nicht bewusst, dass diese ersten Grenzerfahrungen stellvertretend für alle späteren Grenzerfahrungen sein würden.

4 Kommentare

  1. Bettina Ludwig says:

    Liebe Silke, ich lese den Elektrozaun auch als Sinnbild für den Reiz des Austestens von Grenzens, der eigenen und der anderer. Bettina

    1. says:

      Liebe Bettina,
      vielen Dank für Deinen Kommentar! Auf diesen Gedanken werde ich in den kommenden Blogbeiträgen auch noch näher eingehen.
      lg Silke

  2. Die Einfühlsamkeit deiner Beschreibung, mit der es dir gelingt eine Verbindung herzustellen zwischen den Grenzen gewöhnlichen bäuerlichen Weidelandes und frühkindlicher Grenzerfahrung, schlängelt an mir hoch wie der Draht an den Holzpflöcken und wärmt mein Herz. Den Schmerz anderer (Wesen) zum eigenen Vorteil in Kauf nehmen, ich wünschte, ich könnte sagen, diese Erfahrung ist mir erspart geblieben. Ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass dieses Gefühl der Macht seine Schattenseiten hat, denn ich füge damit ungewollt, aber unausweichlich, auch mir Leid zu. Den Begriff der Ohnmacht hier einzuführen, bei einem bewussten Handeln auch gegen das eigene Wohlbefinden, das macht diesen Text zutiefst menschlich. Das ambivalente Bild des kleinen Mädchens an einem Elektrozaun an einer Kuhweide ist für mich die denkbar schönste Beschreibung des Machtvollen und der eigenen Machtlosigkeit, der wir wohl alle im Leben immer wieder begegnen. Becor ich weiterlese, muss ich eine längere Pause zum Nachdenken einlegen. Vielen Dank!

    1. says:

      Lieber Pascal,
      vielen Dank für Deinen berührenden Kommentar, der für mich in wenigen Worten sehr treffend zusammenfasst, was mir beim Schreiben des Beitrags am Herzen lag.
      lg Silke

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